Erzdiözese Bamberg:Hirtenwort unseres Herrn Erzbischofs Herwig Gössl

Wort an die Pfarrgemeinden des Erzbistums Bamberg zur österlichen Bußzeit
Liebe Schwestern und Brüder im Erzbistum Bamberg,
die Welt scheint gerade aus den Fugen geraten zu sein. Beinahe täglich erreichen uns Bilder und Nachrichten, die bis vor Kurzem niemand für möglich gehalten hätte. Ich muss die Verwerfungen auf weltpolitischer Ebene nicht im Einzelnen benennen, um zu erklären, was gemeint ist. Es scheint so, als würde man sich mit einem Mal nicht mehr verstehen, als wäre die Basis für Gespräche plötzlich verloren gegangen. Wenn offensichtliche Lügen zu alternativen Wahrheiten umgemünzt werden und Propaganda sachliche Information ersetzt, fehlt zunehmend eine entscheidende Grundlage für Gespräche und für das gegenseitige Verständnis: Es fehlt die Wahrheit. Wenn die Suche nach der Wahrheit aufgegeben wird oder Wahrheit relativiert wird, dann kann sich jeder Mensch auf die kleine Insel seiner persönlichen Überzeugung zurückziehen und muss sich nicht mehr um die anderen kümmern. Dann hat eben der Stärkere, Reichere, Frechere recht, ganz gleich welche Überzeugung er gerade vertritt.
In einer solchen Welt der Unordnung, wie wir sie gerade erleben, spüren die Menschen große Verunsicherung und Ängste. Sie sehnen sich nach Orientierung und Halt. Doch natürlich besteht die Gefahr, dass diese Orientierung dann bei denen gesucht wird, die einfache und bequeme Antworten auf komplexe Fragen anbieten, völlig unabhängig davon, was wahr, gerecht und hilfreich ist.
Die österliche Bußzeit, die wir in diesen Tagen begonnen haben, will für uns alle eine Zeit der neuen Orientierung sein. Sie will uns auf der Suche nach der Wahrheit unterstützen und uns für ein Leben in der Gemeinschaft und gegen die Vereinzelung Mut machen.
Jesus Christus - so sagt es das heutige Evangelium - begibt sich in die Auseinandersetzung mit dem Diabolos, dem Versucher, der alles daransetzt, die Wahrheit zu vernebeln und die persönlichen Wünsche und Bedürfnisse in den Vordergrund zu schieben. Der Teufel ist der Vater der Lüge und die Wahrheit ist nicht in ihm. So erklärt der Herr an einer anderen Stelle im Johannesevangelium (Joh 8,44). Und Pilatus beendet das Verhör Jesu mit der skeptischen Frage: „Was ist Wahrheit?“ (Joh 18,38). Wir können also davon ausgehen, dass, wo immer die Suche nach der Wahrheit verloren geht, unser Leben gewaltig durcheinanderkommt. Die Sünde schleicht sich auf diesem Weg in unser Leben ein und zerstört die Beziehungen, die wir eigentlich so dringend brauchen. Sünde ist im Letzten ein Leben an Gott und seinen Geboten vorbei, ein Leben ohne Verantwortung, nur für mich und meinen Vorteil. Es ist ein Leben nach dem Motto: „Ich zuerst“ – und dann lange nichts.
Jesus widersteht den Versuchungen, indem er immer wieder seine Entscheidungen an Gott zurückbindet und nach Gottes Willen, und damit letztlich nach der Wahrheit, fragt. Ja, wir sind als Kirche diesem Vorbild Jesu verpflichtet. Wir müssen diese Wahrheit bezeugen, aber nicht so, als ob wir sie ein für alle Mal in unserem Besitz hätten, sondern als Zeugen dafür, dass es diese Wahrheit gibt, weil es Gott gibt. Wir stellen uns den Fragen und Problemen unserer modernen Welt und auch unserer Kirche. Wir strecken uns nach der Wahrheit aus, indem wir sie suchen im Gespräch und in Diskussionen mit anderen. Wir nehmen Feedbacks und kritische Rückfragen ernst und tasten nach dem Willen Gottes in den konkreten Herausforderungen unserer Zeit. So können wir Antworten finden, die uns miteinander weiterführen. Die beständige Suche nach der Wahrheit ist ein Zeichen für die Hoffnung, die uns erfüllt.
Diese Wahrheit Gottes freilich ist nicht immer leicht verdaulich. Sie kann ganz schön auf der Seele liegen, denn sie zeigt mir eben auch die Wahrheit über mich selbst und mein Leben. Sie zeigt mir, wo mein Leben nicht gelungen ist, wo ich selbst der Sünde nachgegeben habe. Einige Wurzelsünden möchte ich benennen, weil sie die Grundlagen von aufrichtiger Gemeinschaft zerstören und Beziehungen töten. Da ist die Sünde des Hochmuts, der mich über die anderen erhebt, ja der mich zuletzt auch Gott vergessen lässt. Ich genüge mir selbst und brauche niemand anderen. Ich kann alles und mache alles richtig. Die Fehler machen immer nur die anderen. Es ist klar, dass auf dieser Basis weder zwischen Personen noch zwischen Nationen Frieden und Verständigung möglich sind.
Da sind die Sünden der Habgier und des Neides, die mich immerzu mit anderen vergleichen und mich nur das sehen lassen, was mir fehlt und was andere haben. Ich kann dann nicht mehr erkennen, mit welchen Gaben ich selbst beschenkt bin. Ich sehe die ganze Wahrheit nicht mehr. Auf dieser Basis fangen Kriege an – im Kleinen wie im Großen. Eine weitere Sünde schließlich, die mich von der Wahrheit wegführt, ist die Acedia, die Trägheit oder „innere Leere“. Sie macht mich innerlich unbeweglich und damit unfähig zur Suche nach der Wahrheit. Ich bleibe in mir selbst und in meinen privaten Bedürfnissen gefangen. Alle meine Gedanken und Bestrebungen kreisen ständig um Nichts.
Die österliche Bußzeit eröffnet uns einen großartigen Gegenentwurf. Sie ruft uns aus der Erstarrung und aus der Gewöhnung an die Sünde. Sie bringt uns in Berührung mit der Wahrheit, die Gott selber ist. „Die Wahrheit wird euch befreien“ (Joh 8,32), so sagt der Herr im Johannes-evangelium. Nutzen wir diese besondere Zeit des Kirchenjahres zu Umkehr und Neubeginn. Lassen wir uns berühren von der Wahrheit Gottes durch Gebet und Betrachtung der Heiligen Schrift, durch Taten der Nächstenliebe in unserem Lebensumfeld, aber auch in Solidarität mit den Menschen, die weltweit unter Krieg, Hunger und Ungerechtigkeit leiden. Die Unterstützung unserer Hilfswerke Misereor und Caritas sind ganz praktische Möglichkeiten, dies umzusetzen. Ganz besonders nahe kommen wir dem Herrn und der befreienden Wahrheit in der Feier der Sakramente. Der Empfang des Bußsakramentes und der Versöhnung gehört ganz wesentlich in die österliche Vorbereitungszeit, vor allem in einem Heiligen Jahr.
So bleiben wir der Wahrheit auf der Spur und werden beschenkt mit Hoffnung und Zuversicht. Das sind die Gaben, die wir als Christen an diese unsere Welt weitergeben dürfen, damit immer mehr Menschen Halt und Orientierung finden, auch in schwierigen Zeiten.
Möge der dreieinige Gott Sie und Euch alle mit seinem Segen beschenken und stärken, der Vater und der Sohn + und der Heilige Geist. Amen.
Ihr und Euer
Herwig Gössl
Erzbischof von Bamberg